26 Dec 2018

We are Family

We are Family

Wer die Seele Zermatts ergründen will, muss den Bergsteigerfriedhof im alten Dorfzentrum hinter der Kirche besuchen. Die Grabsteine von rund 50 Verunglückten sind dort zu sehen, die meisten ließen am Matterhorn ihr Leben. Das „Grab des unbekannten Bergsteigers“ erinnert an die mehr als 500 Toten, die es seit der Erstbesteigung 1865 am berühmtesten Zacken der Welt gegeben hat. Einheimische Bergführer sind ebenfalls darunter. Sie heißen Perren, Lauber, Biner, Furrer, Kronig, Aufdenblatten. Und Julen.

VOM SKILEHRER ZUM UNTERNEHMER

Auch August Julen (1922–2015), der elf Geschwister hatte, war Bergführer und Skilehrer. Es gab wenige Möglichkeiten zum Geldverdienen damals. Man war Bauer. Oder man führte Gäste auf die Viertausender
der Walliser Alpen. Im Winter war man arbeitslos. Es sei denn, man verließ so wie Julen die Heimat, um für Skischulen in St. Moritz oder Davos zu arbeiten, wo es bereits Wintertourismus gab. Julen hatte Glück, dass ihn kurz nach dem Zweiten Weltkrieg – er war noch keine 20 – ein gewisser Mr. Denner ansprach, als er auf dem Weg zur Bergweide der Familie war. Dieser Denner heuerte Julen als seinen persönlichen Skilehrer an und nahm ihn mit in die „Ausserschweiz“, wie die Zermatter den (großen) Rest des Landes zu nennen pflegen. Julen blickte so über den Rand des Kantons hinaus, er lernte einflussreiche Menschen kennen. Denner empfahl den Bauernbuschen weiter an Paul Getty, den damals reichsten Mann der Welt, an Jack Heinz, den Ketchup-König, nach dem August Julen später seinen Sohn benannte, und an Ted Kennedy, den er am kurzen Seil aufs Matterhorn führte.

Julen sah, dass Zermatt von viel spektakuläreren Bergen umgeben war als zum Beispiel Davos und hier eine riesige Winter-Spielwiese auf Skifahrer wartete. Der erste Lift war zwar bereits 1942 von Zermatt nach Sunnegga gebaut worden. Doch die Verbindung hinüber nach Findeln, wo die Julens ihr kleines Gasthaus betrieben, wollte die Gemeinde nicht finanzieren – profitiert hätten ja ohnehin nur die Wirtsleute. August sprach deshalb bei seinem Vater Severin vor. Der war zwar nicht restlos überzeugt, kratzte aber seine ganzen Ersparnisse zusammen und gab sie dem Sohn für den Bau eines Einersessels. Zwei Franken sollte jede Fahrt kosten. Als am Abend des Premierentages der Liftjunge einen Sack Münzen auf den Tisch legte, eine fast vierstellige Summe, wollte Severin das Geld nicht nehmen, weil er davon überzeugt war, es könne nur gestohlen sein. Sein Enkel Heinz Julen sagt: „Er konnte nicht begreifen, dass man mit dem Ding an einem Tag mehr verdienen kann, als eine Kuh wert ist.“ Nun war auch bei den anderen alteingesessenen Zermatter Familien der Groschen – oder besser: Rappen – gefallen. Bald schon überschritt die Zahl der Wintergäste die der Sommergäste. August Julens ganz große Liebe galt indes den bewegten Bildern. 1958 kam es zu einer Begegnung mit Walt Disney. Dieser war nach Zermatt gereist, um dort seinen Streifen „Third Man on the Mountain“ zu produzieren. Nachdem er sich vor Ort einige von Julens
Filmen angesehen hatte, lud er den Zermatter zur Mitarbeit bei den Dreharbeiten ein. Julen sagte begeistert zu, doch als die Arbeit abgeschlossen war, wusste er, dass die Spielfilmerei nichts für ihn war. Er konzentrierte sich lieber auf Dokumentationen, fing die Schönheit der Natur und die reiche Kultur des Wallis ein. Er blieb zeitlebens ein bescheidener, ruhiger Mann, obwohl er es zu einem beträchtlichen Vermögen gebracht hatte mit den Skiliften, dem Filmemachen und dem Wirtshaus am Berg. Vor allem aber konnte er dank des Wintertourismus-Booms, den er ja selbst angeschoben hatte, seine Grundstücke in Zermatt veredeln und den vier Kindern Vrony, Heinz, Leni und Moni vermachen. Als August Julen 2015 mit 93 Jahren starb, kam das halbe Dorf zusammen. Es war zwar ein Künstler gegangen, aber eben auch ein bodenständiger Bergführer, Skischul-Betreiber und Bergbahn-Aktionär.
EIN KÜNSTLER, DER ANECKT

Mit so viel Nachsicht konnten dessen Kinder nicht immer rechnen. Vor allem Heinz nicht, der einzige Sohn. Der stieg zwar mit seiner Schwester Moni in jungen Jahren auch einmal aufs Matterhorn, so als ob es ein Spaziergang wäre. Doch Bergführer wollte er nie werden. Er ist in erster Linie Künstler – und zwar einer, der aneckt. In seinem Atelier am Berg schuf er einst „Hausaltäre“, für die er Jesus-Skulpturen mit Gebrauchsgegenständen kombinierte. Die Zermatter regten sich über das „Sakrileg“ furchtbar auf, der von ihm entworfene Dorf-Brunnen „Überfluss“ wurde demoliert. 2011 eröffnete er mitten im Ort, wo früher das 1990 vollständig abgebrannte Elternhaus stand, sein extravagantes „Backstage“-Hotel. Julen richtete es mit von ihm selbst gebauten Design-Möbeln ein, an den Wänden hängen seine eigenen Kunstwerke und Installationen, an den Decken riesige Kronleuchter. Wenn im Dorf das Musikfestival „Zermatt Unplugged“ stattfindet, steigen hier Künstler und andere VIPs ab. Und in seinem Kino und Kulturzentrum mit
Namen „Vernissage“, das im Untergeschoss des Hotels residiert, finden Konzerte statt. Julen ist es gelungen, das „Backstage“ zu einer Institution zu machen: „Ich bin kein Freund von Imitationen“, sagt er. „Neubauten, die aussehen sollen, als seien sie 300 Jahre alte Kuhställe, finde ich verlogen.“ Bei seinem jungen, urbanen, kunst- und kulturinteressierten Publikum kommt das gut an. In seinem Atelier beschäftigt er zehn Mitarbeiter, er ist ein gefragter Architekt, ohne je eine Uni besucht zu haben. Bereits als Teenager malte er das Matterhorn und verkaufte die Bilder an die Touristen im Lokal seiner Eltern. Später baute er im Keller die ersten Möbel. Kritiker lobten ihn über den grünen Klee. Einer schrieb – Julen war damals erst Mitte 20 –, seine Kunst müsse man jetzt noch schnell kaufen, denn schon bald werde sie kaum mehr bezahlbar sein.
STARKER FAMILIENVERBUND

Heinz Julen hatte Talent und war ehrgeizig. Vor allem aber hatte er vom Vater eine üppige Portion Selbstbewusstsein und Gottvertrauen mitbekommen. Gleichzeitig setzte dieser die Kinder nie unter Druck. „Der Papa gab uns immer das Gefühl, dass wir den richtigen Weg gehen, dass wir es gut machen“, erklärt der Künstler. Als damals, 1990, das Elternhaus brannte, schnappte sich Heinz eine Atemmaske und rannte in das fast schon einstürzende Gebäude, gegen den Rat der Feuerwehr, um die Filmrollen seines Vaters zu retten. Julen beschreibt den letzten Tag mit seinem Vater so: „Als der Papa merkte, dass es zu Ende geht – der Mama hatte er lange nichts gesagt von der Krankheit –, rief er uns Geschwister alle zusammen an sein Bett. Er schaute uns tief in die Augen und sagte: ‚Seid gut zueinander.‘ Dann schlief er in meinen Armen ganz friedlich ein. Als es so still und ich so allein mit ihm war, hatte ich plötzlich das Bedürfnis, ihn zu fotografieren. Also griff ich zu meinem Mobiltelefon. Und nach diesem Foto malte ich dann ein Bild von ihm. Das ist meine letzte Erinnerung an ihn.“ Die Mama, inzwischen jenseits der 90, lebt noch, und zwar im Obergeschoss des „Backstage“. Genauso bescheiden, genauso religiös, wie es ihr Mann immer war. „Der Papa misstraute den Banken“, sagt Heinz. „Wenn Geld übrig war, kaufte er davon lieberein Grundstück unten in Visp im Rhonetal, als es auf die Bank zu tragen.“ Heinz ist da anders. Er arbeite gern mit Banken zusammen, sagt er: „Die sind nicht emotional; solange man die Zinsen bezahlt, hat man seine Ruhe.“ Es ging im Prinzip immer bergauf im Leben des Heinz Julen. Er gewinnt Architekturwettbewerbe, ist ein gefragter Gastredner bei Kunst- und TourismusSymposien, bestens vernetzt. Sein Gourmet-Restaurant „After Seven“ im „Backstage“ glänzt mit zwei Michelin-Sternen, es ist das beste Lokal im Dorf. Gut, er ist nicht der Zahlenmensch wie der Vater, einige kleinere Projekte waren auch unrentabel und wurden wieder abgestoßen. Doch er glaubt an das Gute im Menschen, an die Schönheit, an Freundschaften.

EIN HERBER RÜCKSCHLAG

Das wird ihm Mitte der Neunzigerjahre beinahe zum Verhängnis. Damals lernt er Alexander Schärer kennen, dessen Vater Paul in Münsingen bei Bern die international bekannte Möbelfirma USM besitzt. Die Schärers haben sehr viel Geld, sie haben es unter anderem mit ihrem „USM Möbelbausystem Haller“ verdient, einem Klassiker, der 2001 in die DesignSammlung des MoMA in New York aufgenommen wurde. Das gefällt Julen, es verbindet. Er und Alexander Schärer, die beiden Mittdreißiger, verstehen sich prächtig, machen gemeinsam in Aspen Urlaub, erzählen sich sogar ihre Frauengeschichten. Julen hat die verrückten Ideen, Schärer das Kapital, um sie umzusetzen. Und so brüten sie gemeinsam den Plan für ein Hotel aus, wie es Zermatt, ja die ganze Schweiz noch nicht gesehen hat: eine bewohnbare Skulptur mit drehbaren Badewannen, Julen-Kunst, JulenMöbeln, 40 Millionen Franken teuer. Für den Künstler soll es der Höhepunkt seines Schaffens werden, denn wann bekommt man schon die Chance, sich so frei zu verwirklichen? Im Februar 2000 geht das „Into the Hotel“ an den Start, doch nur sieben Wochen später kassiert der Investor Schärer die Schlüssel und macht den Laden dicht. Schwere Baumängel seien der Grund, heißt es. Julen bekommt Hausverbot, wird von einer ganzen Armada von Schärer-Anwälten mit Klagen überzogen. Vater Schärer macht Julen für die Katastrophe verantwortlich. Dem Künstler droht der Ruin, er soll 15 Millionen Franken Schadenersatz zahlen. Am Ende kommt es zu einer außergerichtlichen Einigung, Julen entgeht nur ganz knapp dem Ruin, verliert aber das wertvolle Grundstück, das er eingebracht hatte. Schweizer Medien berichten landesweit. Die Zermatter können sich ihre Schadenfreude kaum verkneifen. Einige sind sogar richtig sauer, weil er das berühmte Dorf in Misskredit bringt. Von der Gleichung Julen=Zermatt haben sie die Nase voll. Vater August Julen muss das ganze Drama mitansehen, doch die Familie hält zusammen. Heinz Julens drei Schwestern beauftragen ihn mit Arbeiten für ihre Hotels und Restaurants, damit er wieder Umsatz macht und über die Runden kommt. Das Netzwerk, die Familie funktioniert. Alle Geschwister sind fleißig, haben sich selbst etwas aufgebaut. Natürlich auch mit dem Geld und Grund des Vaters als Starthilfe. „Wir haben viel bekommen, was auch Druck schafft – man will ja etwas machen aus dem Erbe“, bekennt Heinz Julen. Der Vater achtete dafür stets darauf, dass es gerecht zuging, dass keiner zu kurz kam.