03 Jan 2017

Der Schattenwerfer

Heinz Julen baut ungewöhnliche Hotels, Restaurants und Häuser. Das ist gut für Zermatt und den Tourismus im Ort. Trotzdem mögen ihn viele im Dorf nicht. Oder gerade deshalb.

Schild Journal – Von Mark van Huisseling. Bild: Marco Zanoni (Lunax)

Er habe gerade viel zu tun zu Hause, erzählt er. Sein «Backstage»-Hotel in Zermatt müsse bereitgemacht werden für die Wintersaison für die Gäste, die anreisen. Trotzdem ist er für zwei Tage nach Zürich gefahren. Das heisst, eigentlich für zwei Nächte – im «Kaufeuten» findet das «Zermatt Unplugged» statt. Dabei handelt es sich um die zweite Zürcher Ausgabe des Musikfestivals, das im Walliser Dorf seit 2007 stattfindet. Und wie immer, wenn in Zermatt etwas passiert, was mit Popkultur zu tun hat, hat Heinz Julen etwas damit zu tun. Während des Zermatter Festivals wohnen Künstler und Besucher, sogenannte VIPs auf jeden Fall, in seinem «Backstage»-Hotel mitten im Dorf. Und in seinem Kino und Veranstaltungslokal mit Namen «Vernissage», das sich im Untergeschoss des Hotels befindet, finden Konzerte statt. Jetzt ist er in Zürich, um Festivalbesucher zu begrüssen, sogenannte VIPs auf jeden Fall.

Die Fahrt im Wagen sei zum Verrücktwerden gewesen – zähflüssiger Verkehr auf grossen Teilen der Strecke. Er wartet nicht gern, denn es gibt immer etwas Besseres zu tun.

Zurzeit zum Beispiel sind ein paar Helikoptertransporte zu organisieren. Dann piepst sein Mobiltelefon, er nimmt den Anruf entgegen, weil, wie gesagt, es immer etwas zu tun gibt. Der Anrufer, tatsächlich, fragt etwas im Zusammenhang mit dem Helikoptertransport, der genau jetzt statt findet. In kurzer Zeit sagt ihm Julen, wie es geht und was zu tun ist. Danach sagt er: «Wirklich ein schöner Raum, ich bin gern hier, spezielles Licht», und schaut durch das Restaurant «Terrasse», das fast leer ist an diesem Nachmittag, und die grossen Fenstern in Richtung Bauschänzli und Stadthausquai.

Was er vermutlich denkt, aber nicht sagt, dafür ist er zu anständig: «Wirklich ein schöner Raum – wenn man bedenkt, dass er nicht von mir gestaltet wurde. Und wirklich spezielles Licht – wenn man bedenkt, dass wir nicht in Zermatt sind.»

Im Dorf war Feuer 

Zum ersten Mal berichtete ich vor 23 Jahren über ihn. Ich erinnere mich an den Besuch beim damals 29-Jährigen – er hatte gerade viel zu tun. Nicht wegen Gästen, die demnächst anreisen würden, sondern wegen Kunstwerken, die er in seinem Atelier, in einem Chalet im Skigebiet, hergestellt hatte; das «Vernissage» wurde er erst vier Jahre später eröffnet. Seinerzeit machte er von Berufes wegen zur Hauptsache Kunst, es ging um seine «Hausaläre», über die sich Zermatter und andere Walliser aufgeregt hatten – er vereinte dafür Jesus-Skulpturen mit Gebrauchsgegenständen. Und im Dorf war Feuer: Der von ihm hergestellte Brunnen mit Namen «Über uss» war demoliert worden. Von Dorfbewohnern wohl, die sich herausgefordert fühlten: vom Brunnen, von den «Hausaltären» oder von Julen selbst. «Kunstschock aus dem Wallis» war die Headline des Artikels im Blick, den ich schrieb.

Es hat sich wenig geändert. Julen, inzwischen 52, verheiratet und Vater zweier kleiner Kinder, ist immer noch beschäftigt wie ein Kellner im «Chez Vrony» in Findeln, einem Zermatter Weiler, zur Mittagszeit an einem sonnigen Sonntag im Februar; das Restaurant gehört einer seiner Schwestern, nebenbei. Und nach wie vor fällt vieles von dem, was er – wahrscheinlich der Zermatter mit der stärksten Ausstrahlung über den Dorfrand hinaus – entwirft, realisiert, betreibt oder verkauft, anderen Zermattern auf die Nerven.

«Wir haben viel bekommen, was auch Druck schafft – man will ja etwas machen aus dem Erbe.»

Jedenfalls denen, die selber gern ein wenig mehr Ausstrahlung hätten. Das ist mein Eindruck. Er sagt es nicht so, er sagt: «Meine Betriebe beseelen das Dorf.» Und darum sei es fast nicht vermeidbar, dass ein Lokal wie zum Beispiel sein «Vernissage», das vielen gefalle, einigen wenigen nicht gefalle. Das «Vernissage» und das dazugehörende «Backstage»-Hotel sind, wie alle seine Betriebe, mit Möbeln eingerichtet, die er selber entwirft und herstellen lässt (er beschäftigt zehn Mitarbeiter in seinem Inneneinrichtungsatelier). Sein Stil sei das Gegenteil jenes Stils, den man in Österreich antreffe, aber auch anderswo, sagt er, und über den er, immer wenn sich Gelegenheit bietet, «streng urteilt», um es zurückhaltend zu sagen: Plattenbauten, aussen Beton, innen mit Chalet-Elementen aus furniertem Holz verklebt. Schlimmer gehe es nicht, findet er. Sein Stil dagegen ist eine Mischung aus (echtem) Holzhaus und Gewerbebetrieb, wie man ihn in Städten antrifft respektive antraf, bevor darin Lofts entstanden, in die Anwälte und Zahnärzte zogen.

Die Gleichung «Zermatt = Julen» 

Vor dem Treffen in Zürich gab ich «+Heinz Julen» ins Suchfeld der Schweizer Mediendatenbank (SMD) ein und fand dazu 28 Artikel (Zeitraum: ein Jahr). «So viele Einsprachen – ich war überrascht», sagte Julen zu einem Walliser Bote-Journalisten im vergangenen Februar etwa, nachdem 16 Vorbehalte gegen seinen geplanten Mehrfamilienhausumbau in Winkelmatten, einem abgelegenen Teil Zermatts, von Anwohnern angemeldet worden waren. «Dabei geht es um Geld», fasst er den Widerstand zusammen. Wirklich nur um Geld? Oder auch darum, dass nicht nur die hohen, zum Teil grosszügig bemessenen Häuser, die Julen aufstellt, ihre langen Schatten werfen? Und dass auch er, der Baumeister oder, was in Zermatt kein Kompliment ist, der Künstler, einigen Dorfbewohnern vor der Sonne steht und sie in den Schatten stellt? «Das ist wohl schon so», sagt er. Und das habe mit seinem «Into the Hotel» zu tun.

«Into the Hotel» war sein grösster Bau bisher. Ende der 1990er Jahre entstand hoch auf einem Felsen am Rand des Dorfzentrums ein Resort, das als James-Bond-mässig beschrieben werden darf und über das Reisemagazine aus der ganzen Welt Bestes schrieben (Condé Nast Traveller etwa). Ich habe es ebenfalls besucht, für herausragend und einzigartig befunden und in Wallpaper, einem Design-und Architekturmagazin, darüber berichtet.

Das «Into» hatte Julen sich ausgedacht; er hat es entworfen, geplant, eingerichtet und bauen lassen. Zu einem grossen Teil mit Geld der Besitzer der Firma USM Haller aus Münsingen, der Familie Schärer. Aus Gründen, die nie klarwurden respektive über die Uneinigkeit herrscht, wurde das Hotel der obersten Klasse zirka sechs Wochen nach der Eröffnung wieder geschlossen. Weil es nicht den Regeln der Baukunst entspreche, teilten die Investoren mit. Julen, der keine schulische Ausbildung zum Architekten oder Designer gemacht hat, habe grosse Fehler begangen, in allem Möglichen, sagten die Geldgeber. Monate später wurden die Häuser teilweise abgerissen und zu Eigentumswohnungen umgebaut (diese wurden inzwischen längst verkauft). Der Streit zwischen Ulrich Schärer und Julen wurde beigelegt, über Einzelheiten der Einigung, die nicht vor einem Richter zustande kam, sprechen die Parteien nicht.

«Das ‹Into the Hotel› ist immer noch präsent, es schwebt über dem Dorf», sagt Julen. Und das könne man hier nicht vergessen. Als Aussenstehender findet man zwar, es sollte eigentlich gut ankommen bei den Leuten am Fuss des Matterhorns – in diesem Kessel, umrundet von 38 Viertausendern –, dass einer der ihren es aufgenommen hat mit einem Industriellen aus der Ausserschweiz (dem Rest des Landes in der Zermatter Sprache). Und den Kampf gegen den grossen Gegner bestimmt nicht verloren hat. Doch das findet man wohl nur als Aussenstehen- der. Möglicherweise fällt es Einheimischen auf die Nerven, wenn Zeitungen und das Fernsehen in Zürich und sonstwo wieder über Julen berichten. Egal, ob sie wohlmeinend sind oder streng mit ihm. Sie haben genug von der Gleichung «Zermatt = Julen», so sieht es aus.

Er stammt aus einer Zermatter Burgerfamilie, Alteingesessene also, denen mehrere recht grosse und gutgelegene Grundstücke gehören – Heinz und seine Geschwister haben einiges Land und somit Vermögen geerbt. «Wir haben viel bekommen, was auch Druck schafft – man will ja etwas machen aus dem Erbe», sagt er.

Wer sich etwa das Kulturzentrum «Vernissage» und das «Backstage»-Hotel – dieses wurde vor kurzem durch eine Loft und ein Chalet für Gäste erweitert – anschaut, kann nur schwer zu einem anderen Schluss kommen als zu dem, dass Julen dem Druck standgehalten hat. Und etwas Gutes und Schönes gemacht hat aus seinem Erbe. Dafür hat er sich verschuldet, hat Kredite aufgenommen – «Ich arbeite gern mit Banken zusammen, die sind nicht emotional; solange man die Zinsen bezahlt, hat man seine Ruhe», sagt er. Und dass Geld zwar nicht sein Antrieb sei, dass «die wirtschaftliche Tragbarkeit aber gegeben sein muss, weil man sonst nicht lange im Geschäft ist».

Andererseits, dass er mit seinem Kulturzentrum finanziell rauskomme, sei überraschend. «Der Anfang war riskant. Ich wollte die Firma Heineken als Partner gewinnen. Sie fragten nach meinem Businessplan – ich hatte keinen», sagt er. Trotzdem, oder gerade deswegen, ist es ihm gelungen, im Geschäft zu bleiben auch im Geschäft mit Kultur. Sein Ziel hat er erreicht: Er will Zermatt beseelen. Und einen Wow-Effekt erzeugen bei Gästen, wenn sie ein Lokal von ihm betreten. Dieser Effekt, finde ich, tritt ein.

«Werdet wie die Kinder» 

Er sei sich seiner Nichtigkeit bewusst, sagt Julen. Das ist ein Satz, den Leute, die viel erreicht haben, oft sagen, wenn sie mit Journalisten reden. Ihm glaubt man den Satz. Und auch diesen Satz: «Mein katholischer Glaube gibt mir den Weg vor.» Er habe gute Absichten, sagt er, «dafür brennt mein Herz». Schade findet er bloss, dass man die längste Zeit eines Arbeitslebens mit Nebensächlichkeiten beschäftigt sei.

Nebensächlichkeiten wie das genaue Einhalten von Bauvorschriften oder das Sich-Herumschlagen mit den allgemein anerkannten Regeln der Baukunst, dem Gesetz der Statik und so weiter, vermute ich. Er versuche, sagt er kurz vor dem Ende unseres Gesprächs in Zürich, als ihn ein paar Dutzend Tourismusfunktionäre sowie VIP-Gäste des «Zermatt Unplugged»-Musikfestivals bereits seit einer halben Stunde oder so erwarten, er versuche, die Dinge leicht zu nehmen. Gerade die schweren Dinge. «Werdet wie die Kinder», gibt er eine Zeile aus der Bibel wieder. Das sei sein Ziel. Und im Grunde wolle er auch Künstler bleiben, obwohl er längst auch Hotelier, Unternehmer, Arbeitgeber und Geschäftsmann ist.

Er wird voraussichtlich auch das nächste Mal, wenn er ein Interview geben wird, gerade wieder ein paar Leuten in Zermatt oder an- derswo vor der Sonne stehen. Und sie in den Schatten stellen. Und er wird gerade wieder sehr viel zu tun haben.

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