14 Dec 2016

Liegt in der Familie – Reisemagazin Dezember 2016

TEXT: Detlef Dreßlein FOTOS: Hans Schürmann

Vor 60 Jahren hatte August Julen eine simple Idee. Und so wurde in der Folgezeit aus dem Kuhdorf Zermatt ein Domizil für Könige und Milliardäre. Auch heute noch prägt der Julen-Clan diesen Ort.

Unten im Keller wird die Seele von Zermatt sichtbar. Immer dienstags und donnerstags, immer um 18 Uhr. Im Film. Sehr grisselig, im Kolorit der Fünfzigerjahre. Stets etwas zu rot leuchten die Geranien und die karierten Tischdecken, etwas zu himmelblau der Himmel. Die Kameraführung wackelig, die Schnitte abrupt, die Dramaturgie episch. Und doch sind die Filme, die „Menschen am Matterhorn“ und „Whympers Weg aufs Matterhorn“ heißen, einzigartige Zeitdokumente. Regisseur, Drehbuchautor, Kameramann, Kommentator und Nebendarsteller: August Julen.

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L-R: August Julen, Moni Zurbriggen, Leni Müller, Vrony Cotting-Julen, Chez Vrony

„Ja, der Papa“, Heinz Julen lächelt versonnen. Im Keller seines Backstage-Hotels Vernissage bendet sich das Kino, in dem er nicht nur das Neueste aus Hollywood zeigt, sondern auch Älteres aus dem Wallis. Und weil er selbst ein großer Junge ist, Anfang 50, mit großen, feingliedrigen Künstlerhänden und einer Physiognomie wie der mittelalte Maximilian Schell, wirkt das „Papa“ und „Mama“, wie er seine Eltern stets nennt, auch immer etwas kokett.

Wer weiß, wie Zermatt heute aussähe, wäre der im Oktober 2015 verstorbene August Julen nicht so ein Visionär gewesen. Dieses seltsam besondere Dorf, in dem Könige und Milliardäre urlauben, durch das aber vor wenigen Jahren noch Bauern ihre Kühe trieben. Zermatt ist umgeben von den höchsten Gipfeln, die die Schweiz zu bieten hat 38Viertausender lassen sich von hier aus erreichen. Der „Hausberg“, das Matterhorn, gehört quasi zum Corporate Design der Schweiz. Gleichermaßen ist Zermatt absurd abseitig gelegen, schier endlos dauert die Autofahrt hierher, samt Serpentinen und Autozug. Und selbst dieser Trip endet sechs Kilometer zu früh, denn Zermatt ist für Privatautos gesperrt. Man parkt in Täsch, fährt noch ein Stück mit dem Zug und geht dann zu Fuß oder nimmt das Elektrotaxi.

August Julen hat den Skitourismus in Zermatt entscheidend nach vorn gebracht. Es war kurz nach dem Zweiten Weltkrieg und er fast noch ein Teenager, als er eines Tages hinauf auf die Schweigmatten fuhr, wo die Schafe der Familie standen und versorgt werden mussten. Unterwegs sprach ihn ein Amerikaner an, ein Mr Denner. Kurz danach engagierte der den braven August Julen als persönlichen Skilehrer. Später empfahl er ihn weiter an Paul Getty, den damals reichsten Mann der Welt, an Jack Heinz, den Ketchup-Mogul, nach dem August Julen schließlich seinen Sohn benannte, und an Ted Kennedy, den er aufs Matterhorn führte. Dieser Mr Denner je Adenfalls nahm den jungen Skilehrer mit in die mondänen Wintersportorte: St. Moritz, Davos und Klosters, wo August Julen Dinge sah, die das Bauerndorf Zermatt mittelalterlich erscheinen ließen, denn hier setzte man ausschließlich auf den Sommer tourismus und Kühe und Schafe.

Dabei hätte es nur einer Weiterführung des Sessellifts von der Sunnegga hinüber zur Findelner Alp bedurft. Im Dorf winkte man ab, denn pro tieren würden ja eh nur die Julens und ihr Gasthaus in Findeln. So ging August zu seinem Vater Severin, und der rate alles Geld zusammen. „Wenn ihr daran glaubt, dann tue ich es auch“, sagte er. Aber so wirklich glauben wollte er es nicht. Auch nicht, als am Ende des ersten Betriebstages ein Angestellter einen Sack Münzen auf den Tisch knallte. Die Einnahmen des Tages, etwa 1000 Franken. Severin wollte das Geld nicht, weil er meinte, es könne nur gestohlen sein. „Er konnte nicht begreifen, dass man mit dem Ding an einem Tag mehr verdienen kann, als eine Kuh wert ist“, erzählt Heinz Julen. Nun hatten es alle in Zermatt verstanden.

Pirmin Zurbriggen ist seit knapp 30 Jahren Teil der Familie Julen. Der Olympiasieger von 1988 ist in der Schweiz so etwas wie Franz Beckenbauer und Boris Becker in einem. Bei einem Werbetermin 1986 in Findeln lernte er Moni Julen kennen; drei Jahre später heirateten sie. Seit 1998 lebt er nun in Zermatt und ist begeistert.Von den Menschen und den sportlichen Möglichkeiten. „Das Skigebiet von Zermatt ist das beste in der Schweiz, da brauchen wir gar nicht diskutieren“, sagt Zurbriggen. „Und ich kenne wirklich viele Skigebiete.“

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Heinz Julen gehört von jeher zu Zermatt. Wenn er über die Gegend spricht, dann vibriert er vor Liebe und Respekt. Solle keiner glauben, nur weil hier die Schweiz zu Ende sei, sei hier auch die Welt zu Ende. Er erzählt, dass der Theodulpass einst dieVerbindung zwischen Römischem Reich und Germanien war, dass im Mit- telalter das Klima so mild war, dass auf 3000 Metern die Obstbäume blühten, und dass um 1890 noch mal eine Eiszeit kam in der Zeit, als der Tourismus gerade begann, nach der Erstbesteigung des Matterhorns durch den Briten Edward Whymper im Juli 1865.

Will man dem Ursprung der Julens näherkommen, muss man hinauf nach Findeln. Dort stehen die Häuser, in denen die vier Geschwister ihre Kindheit verbrachten: Vrony, die Älteste, wurde 1960 geboren, dann Heinz, der Zweitälteste (1964), und schließlich Leni (1965) und Moni (1967). Hier oben entstand auch die besonders enge Bindung der vier. „Dass wir als Familie zusammenhalten, ist ein großes Glück“, sagt Elia Zurbriggen, Sohn von Moni und Pirmin. Jüngst hat er mit seiner Schwester Maria, seinem Bruder Pirmin junior, seiner Cousine Romaine und seinem Cousin Joel eine erfolgreiche Folk-Pop-Band gegründet. Es bleibt eben alles in der Familie.

Oben in Findeln hatten auch schon Elias Urgroßeltern Veronica und Severin Julen gelebt, mit ihren zwölf Kindern auf 30 Quadratmetern. In den Zwanzigerjahren kam Veronica auf die Idee, den vorbetwandernden Touristen Teezuverkaufen, die Tasse für einen Franken. Das rechnete sich, kostete ein Schaf damals doch 25 Franken. In den Fünfziger-und Sechzi-gerjahren begann die für Zermatt so typische Metamorphose der Julens von der Bauern- zur Gastronomenfamilie, als August Julen in jenem Sommerhaus mit seiner Frau Martina das Restaurant Alpenheim erö nete. Tochter Vrony wollte nach Ende der Schulzeit einen Sommer aushelfen und ist mittlerweile mehr als 30 Jahre hier. Aus der Hütte mit Tee und Käseschnitten wur de das mondäne Chez Vrony. Auch Leni und Moni halfen immer mit, bekamen später aber andere Grundstücke, auf denen sie ihre eigenen Hotels errichteten. Und Heinz, der Freigeist? „Er war oft in seiner Welt, hat viel gebastelt, Zelte für uns gebaut und mit Lego gespielt“, erinnert sich Leni.

So entwickelte sich Heinz Julen zum Künstler und zum gefragten Architekten. Ohne dass er je Architektur studiert hätte. Schon als Jugendlicher zeichnete er das Matterhorn und verkaufte die Bilder an die Touristen im Restaurant. Später dann schraubte und schreinerte er im Keller die ersten Möbel zusammen. Er war noch keine 25 Jahre alt, da schrieb ein Kritiker, man müsse seine Kunst jetzt kaufen, denn bald sei sie nicht mehr bezahlbar. Kunst und Architektur, das gehört für Heinz Julen zusammen. Der Architektur- professor Michel Clivaz bezeichnete ihn als den „letzten Walser“, weil er den Stil des Wallis so verinnerlicht habe. „Die Walser machten fast alles selbst“, erläutert Julen. „Ihre Architektur war funktional und reduziert auf das Minimum. Dekoration gab es nicht, es ging nur ums Überleben.“

Dieser Enthusiasmus und der naive Glaube an Schönheit, Kunst und Architektur und auch an Freundschaft hätten ihn beinah ruiniert. Eines Tages, Mitte der Neunzigerjahre, lernt er Alexander Schärer kennen, Sohn von Paul Schärer, dem Millionär und Eigentümer der Möbel rma USM. Beide sind Mitte 30, beide jung genug für Dummheiten und alt genug fürs Geschäft. Der eine hat die Mittel, der andere die Vision. Und so entwickeln sie den Traum von einem Hotel, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Im Februar 2000 erö net „Into the Hotel“, ein designter Irrsinn mit drehbaren Badewannen, Julens verrückten Möbeln und Blick aufs Matterhorn. Und sieben Wochen später die Katastrophe: Es werden Baumängel sichtbar. Vater Schärer, ein konservativer Unternehmer, gibt Julen die Schuld an allem. Der wehrt sich, aber Schärer und seine Anwälte sind einfach besser in Business-Angelegenheiten.

„Es hieß, der Künstler habe alles falsch gebaut. Wenn du mich angreifen willst im Bau, dann hast du natürlich gute Karten. Ich baue ja nichts nach Norm. Aber sie hatten mir von Anfang an einen Bauleiter aufgedrückt, der das alles abgesegnet hat“, erinnert sich Julen. Womöglich haben beide Seiten Fehler gemacht, aber die Eskalation überraschte dann doch. Nur durch Verzicht auf seine Anteile umgeht Julen eine ruinöse Schadenersatzklage. Statt das Hotel zu sanieren und die Mängel zu beheben, lässt Schärer den Bau verrotten und wirft Julens Designermöbel auf den Sperrmüll. „Die ganze Schweiz hat zugesehen. Es tat weh, als jede Hausfrau plötzlich Experte war und ich das Arschloch“, erinnert sich Julen. Der Fall verwirbelte die Schweiz, und auch international wurde berichtet. Das Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ brachte eine große Reportage unter dem vielsagenden Titel „Das Alptraumhaus“. Erst Jahre später wird das zum Betonskelett verkommene Hotel wieder aufgebaut und steht heute als The Omnia prächtig da.

Heinz Julen rappelte sich wieder auf. Aber es dauerte mehr als zehn Jahre, bis er 2011 mit dem Backstage wieder sein eigenes Hotel erö nen konnte. Ein bisschen was konnte er retten von den Ideen des Into, aber alles ist moderater, kleiner, preisgünstiger. Die Erfahrungen mit dem Into wertet er als Kunstperformance. So hat er seinen Frieden damit gemacht. Am liebsten ist Heinz Julen noch immer in seinem Atelier. Sieben Leute arbeiten hier, denn es gibt viel zu tun. Die Möbel, die er aus dem zusammenpuzzelt, was andere wegwerfen würden abgenutztes Holz und ausrangierte Badarmaturen zum Beispiel, sind weltweit gefragt. Hier ist auch die komplette Inneneinrichtung seines Backstage entstanden.

Im Atelier hat Heinz Julen Teile des alten Bahnhofs von Zermatt aufgebaut. „Die sollten zum Alteisen“, sagt er säuerlich. Und ersetzt wurde das Gusseisen von 1889 durch einen düsteren Betonmonolith mit Willkommensgrüßen in Russisch, Französisch und Finnisch. In Papa Augusts Filmen sieht man den alten Bahnhof einige Male kurz durchs Bild wackeln. Er sah dort sehr schön aus. Jetzt tut er das eben in Heinz’ Werkstatt.

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